Den vollständigen Text der Besprechung können Sie hier ausdrucken
Zur Zeitschrift CIVIS mit SONDE gehts es hier.
In CIVIS mit SONDE 2/3-2010
Aus nächster Nähe, aber mit Abstand
von Heinz Neubauer
Wenn der einzige „Bürger Europas" nach durchstandener schwerer Krankheit seinen 80ten Geburtstag feiern kann, dann gibt es viele Lebensdarstellungen, manchmal autorisierte, aber auch viele „Schnellschüsse", die den nahenden Jahrestag des allseits bekannten Jubilars aus Vertriebsgründen nutzen wollen. Der von Stephan Eisel vorgelegte, sehr persönliche Bericht, gehört gewiss zu keiner derartigen Kategorie. Und wenn der Klappentext nicht erwähnt, dass der Autor studierter Historiker ist, dann ist das auch persönlich wie konsequent zugleich, denn das Buch ist gerade nicht „sine ira et studio (deutsch: ohne Zorn und Eifer - Tacitus, ca.58-ca.120) geschrieben. Hier schreibt ein selbst vielfältig engagierter Zeitzeuge über seine 35 Jahre an der Seite von Helmut Kohl. Er stützt sich dabei nicht nur auf die eigene Erinnerung und archivierte Dokumente, sondern zusätzlich auf ein technisches, heute vielleicht nicht mehr verkäufliches analoges Hilfsmittel, nämlich ein auf Tonband gesprochenes Tagebuch, welches er damals im Bundeskanzleramt zu führen hatte. (Ketzerische Frage des Rezensenten: Wer darf heute digitale Nachrichten wie SMS- oder Twitter-Botschaften archivieren ?)
Das erste Drittel seines Berichtes handelt von dem langen Weg Kohls von Mainz nach Bonn. Es bleibt immer wieder erstaunlich, wie viele Rückschläge und manche Niederlage auch ein Helmut Kohl meistern musste, ehe er 1976 als Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im politischen Zentrum des Bundesrepublik dauerhaft angekommen war und unverändert von politischen Gegnern, Journalisten und Kulturschaffenden als „Pfälzer aus Oggersheim" verunglimpft wurde. Kohl selbst nennt seine Heimat immer Ludwigshafen. Der ebenso bodenständige Pfälzer Stephan Eisel, der Helmut Kohl aus den Besuchen des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten in Dahn bereits kennt, erlebt und unterstützt ihn bald aktiv, so 1979 als RCDS-Bundesvorsitzender in der heute fast vergessenen Zerreißprobe der Union um die Kanzlerkandidatur zwischen Strauß oder Albrecht sowie nach seinem abgeschlossenen Studium als Mitarbeiter in Bonn. Eisel beschreibt Kohl, seinen Arbeits- und Politikstil aus nächster Nähe, basierend auf eigener Beurteilung und ohne Verletzung von Dienstgeheimnissen. In dieser Hinsicht ist das Buch das genaue Gegenteil der sich damals als bestens informiert gerierenden Berichterstattung in den Hamburger Magazinen „Spiegel" und „Stern".
In einzelnen Bildern vermittelt der Autor ein lebendigen Eindruck des politischen Bonn, einer Epoche, die mit der Kanzlerschaft Kohls ihren Höhepunkt und ihren Abschluss fand. Beginnend mit dem NATO-Doppelbeschluss, der in der innerparteilichen Debatte Helmut Schmidt die Unterstützung der SPD kostete, und den stets erneut angeknüpften Gesprächsfäden zu den Spitzen der FDP, gelang Kohl das erfolgreiche konstruktive Misstrauensvotum gegen den Strategen Schmidt. Zugleich hielt, häufig belächelt, der überzeugte Europäer Kohl am Auftrag zur Wiedervereinigung Deutschlands fest, obwohl vor allem die Ministerpräsidenten aus der SPD diesen als überholt deklarierten. Eine stetige und verlässliche Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland in der ersten Ära Kohl, vor allem als Partner der europäischen Nachbarn und als NATO-Partner, eröffnete 1989 dann das „Fenster der Möglichkeit" für die Deutschen. Dabei vergaß und vergisst Kohl nie, die friedlichen Freiheitsbestrebungen der Polen, Tschechen und Ungarn dankbar zu erwähnen, wann immer er die Entwicklung zur deutschen Einheit beschreibt.
Seit dem 9. November 1989 konnte Helmut Kohl mit untrüglichem Gespür „für den Hauch der Geschichte" die Herrschaft des Verfahrens und mit seinem 10-Punkte-Programm am 28. November im Bundestag die gestaltende Führung übernehmen. Spannend zeichnet der Autor die unterschiedlichen Positionen der Parteien nach. Dabei kommt er auch auf die anfangs zögerliche Haltung Hans-Dietrich Genschers zu sprechen. Im selben Zeitraum organisierte der Machtpolitiker Kohl im neuen Gästehaus der Bundesregierung in Berlin-Dahlem entschlossen die „Allianz für Deutschland", ein Parteienbündnis in der aufbrechenden DDR, das dann bei den einzigen freien Wahlen zur Volkskammer stärkste Kraft wurde. So konnte der Verfassungsminister Wolfgang Schäuble den Einigungsvertrag ohne ideologische Klimmzüge mit der frei gewählten DDR-Regierung ausarbeiten.
Zitat S. 148: „Die Wiedervereinigung hat eine Frage aufgeworfen, die ich ganz anders als Helmut Kohl beantwortete. Mit Leidenschaft und Überzeugung trat ich dafür ein, dafür, dass Bonn auch im wiedervereinigten Deutschland die Hauptstadt bleiben sollte. Helmut Kohl hielt sich lange bedeckt, ehe er sich für Berlin aussprach." Hier gefällt dem Rezensenten (dessen Vater ebenfalls studierter Historiker gewesen ist) die eingehaltene Distanz des Autors und studierten Historikers Eisel, war dieser ja seinerzeit als amtierender CDU-Kreisvorsitzender in Bonn klar Partei („cum studio")! Der Historiker Helmut Kohl hat wohl eher in längeren historischen Zeiträumen gedacht, als er schließlich für die gemeinsame Hauptstadt Berlin plädierte. Als Politiker hat er anfänglich mit der Bonn-Vereinbarung und vor allem mit dem späteren Bonn-Berlin-Gesetz als Bundeskanzler dafür gesorgt, dass der Umstieg von der Bundesstadt Bonn zur Bundeshauptstadt Berlin gelang und ein wirtschaftlicher Abstieg vermieden werden konnte („sine ira").
Um den Abstand geht es auch, wenn der jährliche Sommerurlaub in St. Gilgen am Salzburger Wolfgangsee geschildert wird. Das Ehepaar Kohl fühlte sich dort auf Zeit als Einheimische, auch weil die dortigen Bewohner den neugierigen Journalisten keine verwertbaren Auskünfte zu geben pflegten. Dennoch musste der Autor im Wechsel mit einem Kollegen auch in dieser Zeit dafür sorgen, dass der Kanzler „immer im Bilde blieb" und mit Hilfe einer aus Geheimhaltungsgründen verschlüsselten Leitung telefonisch erreicht werden konnte. Wieder gelingt eine Schilderung ohne Verletzung der Vertraulichkeit. Hingegen werden auch Anekdoten erstmalig gedruckt: etwa die Reaktion von Präsident George Bush sen., der als ehemaliger Marinepilot im Oval Office selbst eine ihm von Helmut Kohl überreichte Dose mit Pfälzer Leberwurst zunächst skeptisch öffnet, diese dann verschmitzt lächelnd auf ein Stück Brot streicht und anschließend genüsslich hinein beißt. Alle drei Phasen werden fotografisch festgehalten und erreichen mit einem persönlichen Dank das Kanzleramt in Bonn, sehr zur Erheiterung des Kanzlers und seines Büros.
Zitat S. 226 f.: „Als Bundeskanzler arbeitete Helmut Kohl mit den jeweils drei US-Präsidenten (Ronald Reagan, George Bush, Bill Clinton), britischen Premierministern (Margret Thatcher, John Major, Tony Blair) und französischen Präsidenten (Valerie Giscard d'Estaing, François Mitterand, Jaques Chirac) zusammen. Dazu kamen mit Leonid Breschnew, Juri Andropow, Konstantin Tschernenko und Michael Gorbatschow gleich vier Generalsekretäre der KPdSU und der russische Präsident Boris Jelzin." Der Autor fasst zusammen, Helmut Kohl habe die Gabe, die „enorme Herausforderung des Gleichzeitigkeit des Ungleichgewichtigen zu bewältigen": 48 Stunden nach dem 10-Punkte-Programm im Bundestag wurde sein Freund Alfred Herrhausen am 30. November 1989 in Bad Homburg durch einen Terroranschlag ermordet.
Nur das - von Stephan Eisel en detail aus der Nähe beobachtete - innere Wertegerüst habe ihn, Helmut Kohl, nicht verzweifeln lassen, sondern ihn zum Handeln im persönlichen Umfeld wie in der großen Politik befähigt. Kann eine Gabe zum Geburtstag „von Pfälzer zu Pfälzer" mehr Respekt ausdrücken? Also ein gelungenes, lesenswertes Geburtstagsgeschenk!
Stephan Eisel: Helmut Kohl. Nahaufnahme. Bouvier Bonn 2010, 224 Seiten, 19,90 Euro.